Rav Uri Scherki

Zum Gebet - Der die Toten wiederbelebt (I)

Übersetzung: Rafael Plaut

Von der Webseite Kimizion.org



Der zweite Segensspruch der Schmone-Esre will uns die Mächtigkeit G~ttes bewußt machen, oder, modern ausgedrückt, sein Können. Der Talmud erklärt bereits, man könne gar nicht alle Machttaten G~ttes nennen, wie es heißt: "Wer spricht aus die Machttaten des Ewigen, verkündet all seinen Ruhm?" (Psalm 106,2), und beschränkt sich bei der Deutung der "Mächtigkeit" hauptsächlich auf die Fähigkeit, die Toten wiederzubeleben (Traktat Ta'anit).

Dieser Segensspruch zählt sechsmal das Thema der Totenbelebung auf, was auf den ersten Blick übertrieben erscheint. Es heißt: "belebst die Toten, bist stark zum Helfen", danach "belebst die Toten in großem Erbarmen", und wiederum "hälst die Treue denen, die im Staube schlafen", und wieder "König, der du tötest und belebst und Heil aufsprießen läßt". Und wenn das alles noch nicht genug war, so heißt es am Ende: "Und treu bist du, die Toten wieder zu beleben", gar nicht zu reden vom Abschluß des Segens: "Gelobt seist du, Ewiger, der du die Toten wieder belebst". Wozu erwähnt der Beter sechsmal die Wiederbelebung der Toten? Anscheinend werden hier grundverschiedene Dinge angesprochen, obwohl sie sich hinsichtlich des Stils ihrer Präsentation sehr ähneln.

1. Beim ersten Mal heißt es: "belebst die Toten", Gegenwart, nicht Zukunft; nicht, daß G~tt in Zukunft die Toten wiederauferstehen läßt, vielmehr belebt er Tote hier und jetzt. Und wer sind diese Toten, die G~tt derzeit belebt? Wir haben keine andere Wahl als zu sagen, daß diese Toten wir alle selber sind, die in dieser Welt leben. Wir alle, denn ohne die göttliche Lebenskraft, die uns existieren läßt, wären wir alle nicht am Leben. Das ist der absolute monotheistische Glauben, wonach sich der Schöpfer, gepriesen sei er, in Allem befindet, und ohne seine lebensspendende Kraft nichts existieren könnte. Darum heißt es: "belebst die Toten", du belebst uns. Wir sind die Toten, die durch dich leben.

2. "belebst die Toten in großem Erbarmen" - es gibt Tote, die großes Erbarmen zum Leben brauchen. Und wer sind diese Toten? "Die Bösewichte heißen schon zu Lebzeiten 'Tote', und die Gerechten heißen selbst im Tode 'Lebendige'" (Talmud jeruschalmi, Brachot 15b). Die Bösewichte verfügen nicht über genug Anrechte, damit ihnen das Leben vergönnt sei, und G~tt erbarmt sich ihrer und läßt sie trotzdem weiterleben - vielleicht werden sie bußfertig umkehren. Ist dies doch das Grundprinzip des Erbarmens, wie im Buche "Der Weg der Frommen" eingehend erläutert wird, daß nämlich das Erbarmen den Sündern als Fristverlängerung für die bußfertige Umkehr gewährt wird. Das ist die Bedeutung von "belebst die Toten in großem Erbarmen". Bereits Rabbiner Schmu'el di Modina (Saloniki/Zfat, lebte vor etwa 450 Jahren; "MaHaRaSchdaM") erwähnte in einer seiner Responsen, daß die den talmudischen Weisen nachgesagte Fähigkeit der Totenbelebung nicht in ihrem einfachen Wortsinn zu verstehen sei, vielmehr veranlaßten sie viele Menschen zu bußfertiger Umkehr, da doch die Bösewichte "Tote" genannt werden, und ihre Umwandlung in Gerechte bedeutet praktisch ihre Wiederbelebung. An dieser Stelle läßt sich vielleicht ein Hinweis aus den Grundsätzen von Rabbiner Jehuda Aschkenasi einfügen: Wer behauptet, die Auferstehung der Toten sei kein Prinzip der Tora [und damit seinen Anteil an der kommenden Welt verwirkt], dessen Tora hat nicht die Kraft, zu bußfertiger Umkehr zu bewegen, d.h. Tote auferstehen zu lassen... - Weiter im Segensspruch:

3. "hälst die Treue denen, die im Staube schlafen". Wer sind jene, die im Staube schlafen, die nicht "im Staube tot" sind? So werden in allen unseren Quellen unsere Stammväter und - mütter bezeichnet, die in der Höhle Machpela in Chevron (Hebron) begraben liegen - sie heißen überall die "Schlafenden von Chevron". Und was hat es mit der Treue auf sich, die G~tt ihnen hält? Damit ist der Bund gemeint, den G~tt mit ihnen schloß, daß nämlich ihre Kindeskinder eines Tages nach dem Lande Israel zurückkehren werden. Demnach bedeutet die Rückkehr der Nation in ihr Land, Gründung des Staates und Einsammlung der Verstreuten die dritte Wiederauferstehung der Toten, die im Segensspruch erwähnt wird; die Totenbelebung im nationalen Sinne. Und so drückte sich auch der Prophet Jecheskel aus, als er in der Vision der trockenen Gebeine sagte, die Rückkehr nach Zion sei wie die Auferstehung der Toten.

4. Danach heißt es: "König, der du tötest und belebst und Heil aufsprießen läßt", ein Hinweis darauf, daß vor dem "Sprießen des Heils" das jüdische Volk eine Periode des "tötest und belebst" durchmachen muß, der Tötung des Exils und der Auferstehung des Volkes Israel in Vorbereitung des "Sprießens des Heils"; zu unserem Leidwesen ereigneten sich diese Dinge vor 60 Jahren im Holocaust.

5. Der Segensspruch endet mit "Und treu bist du, die Toten wieder zu beleben". Hier ist bereits von der Zukunft die Rede, und gemeint ist die individuelle Auferstehung eines jeden Einzelnen, die wir für die kommende Zukunft erwarten.

6. Der Segensspruch schließt mit "Gelobt seist du, Ewiger, der du die Toten wieder belebst". In diesem Satz werden alle Formen der Totenbelebung in einer Wesensheit zusammengefaßt, nämlich in der Mächtigkeit G~ttes.